Eltern-Kind-Beziehung
Familienleben mit Teenagern

Was Kinder von Ihren Eltern WIRKLICH lernen

Neulich habe ich einen Beitrag gelesen, der mich zu Tränen gerührt hat: Eine junge Frau schrieb einen Brief an ihren verstorbenen Vater.
In dem Brief beschrieb sie, dass er immer ein geselliger Mensch war, dem das Sprechen vor Gruppen stets leicht fiel. Jeder hörte ihm gerne zu, wenn er sprach und sein Lachen steckte alle an.
Sie erzählte aber auch, dass er stets versuchte, ihr seine Sicht der Welt „aufzudrängen“, sie sollte sein „richtig und falsch“ lernen. Er Bestand in vielen Dingen auf seine Ansichten und wurde auch schon mal ärgerlich, wenn sie ihm widersprach oder sich sogar weigerte, bestimmte Ansichten von ihm zu übernehmen.

Und so war ihr Resumée in dem Brief, dass sie mittlerweile verstanden hat, dass seine Intentionen sie zu lehren, stets „gut gemeint“ waren. Doch, dass was er ihr letzten Endes wirklich für ihr Leben mitgegeben hat, wofür sie ihm im nachhinein ewig dankbar sein wird, war etwas, dass er ihr niemals bewusst oder aktiv beigebracht hat:

Nie hat er ihr erklärt

  • wie man eine Rede schreibt,
  • wie man die Aufmerksamkeit von Menschen an sich bindet,
  • wie man große Gruppenworkshops moderiert
  • wie man unbefangen und offen auf Menschen zugeht

Trotzdem fallen ihr alle diese Dinge heute so leicht. Und zwar deswegen, weil sie von Ihrem Vater folgende Dinge gelernt hat

  • unerschütterlich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu vertrauen,
  • selbstbewusst zu sein,
  • andere Meinungen zu respektieren
  • auch mal über sich selbst zu lachen

Sie hat bemerkt, dass sie in kritischen Situationen vollkommen unbewusst die gleiche Körperhaltung wie ihr Vater annimmt oder sich auf die gleiche Weise mit den Fingern durchs Haar fährt.

Das, was sie von ihm wirklich gelernt hat, war nicht all das, was er viele Jahre versucht hat ihr beizubringen. Das, was er ihr wirklich für ihr Leben mitgegeben hat war vielmehr seine innere Haltung, sein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sein Selbstvertrauen und seine Art Menschen anzusprechen.

Darum hat mich diese Geschichte so sehr berührt

Mich hat diese Geschichte emotional so sehr berührt, dass sogar ein paar Tränen geflossen sind, weil ich mich sofort wieder gefunden habe:

DassVerhältnis zu meinem Vater war eigentlich seit ich denken kann immer schwierig.

Was mein Vater mich lehren wollte

Mein Vater hatte immer diese Version einer „anständigen jungen Dame“ von mir im Kopf.

  • Die Prinzessin, die er mit hübschen Kleidern und Schuhen einkleiden kann.
  • Die Tennis spielt, vielleicht auch Golf.
  • Die später mal Juristin oder Ärztin wird.

Statt dessen hatte er mich.

Ein Pferdemädchen.

Wild, ständig dreckig, unterwegs mit Stiefeln und Reithose statt mit Kleid und Lackschuhen.

Aufgeschlagene Knie und überall blaue Flecken vom Handball.

Abitur gerade so geschafft und trotzdem nicht studiert. Statt dessen „nur“ eine Ausbildung abgeschlossen.

Das, was mein Vater mich lehren wollte, die Werte, die er mir beibringen wollte, seine Sicht auf die Welt, seine Vorstellungen davon, wie Töchter sein sollten oder was „sich gehört als junge Dame“… all das, hat mich nie wirklich erreicht. Meine Ziele waren ihm nicht ambitioniert genug. Meine Freunde nie gut genug. Er wollte mir beibringen, mich nie „nur“ mit dem Mittelmaß zufrieden zu geben sondern immer nur das Beste von mir und für mich zu fordern. Aber das, was er für „das Beste“ für mich hielt, war nicht das, was ich für „das Beste“ für mich hielt.

Doch dann wurde mein Vater schwer krank. Er hatte mit Anfang 50 einen schweren Schlaganfall, woraufhin er fast alles neu lernen musste. Sprechen, essen, gehen. Alle Fähigkeiten, die normalerweise so selbstverständlich sind musste er sich neu erarbeiten. Er kämpfte jeden Tag für ein bisschen Fortschritt, für ein bisschen mehr Unabhängigkeit. Er kämpfte so lange, bis er schließlich fast alles wieder konnte. Und gerade, als es so aussah, dass es jetzt wirklich wieder konstant bergauf gehen könnte, dass die Zeit der ständigen Rückschläge überwunden sei, erhielt er die Diagnose Krebs.

Mein Vater verstarb kurz vor seinem 60sten Geburtstag nach langer Krankheit.

was ich statt dessen von meinem Vater gelernt habe

Ich habe es meinem Vater nie gesagt. Ich konnte es nicht. Doch in diesen Jahren, der langen Krankheit hat er mir ohne Worte und ohne es überhaupt zu ahnen, mehr beigebracht als in all den Jahren voller Spannungen zwischen uns zuvor.

Sein unerschütterlicher Wille nicht nur wieder sprechen, essen und gehen zu können sondern auch wieder Auto fahren zu wollen. Wie er jeden noch so kleinen Fortschritt gefeiert hat und jeden neuen Rückschlag einfach überwunden hat. Seinen Mut und seine absolute Weigerung einfach aufzugeben haben mich wirklich von ganzem Herzen stolz gemacht.

Mein Vater hat mir Zeit seines Lebens vieles versucht beizubringen. Doch das, was er mir tatsächlich für mein ganzes weiteres Leben mitgegeben hat, das was ich wirklich von meinem Vater gelernt habe ist:

  • Ich habe von meinem Vater gelernt was Mut ist.
  • Ich habe gelernt, was Willenskraft bedeutet und was innere Stärke ist.
  • ich habe gelernt, was es bedeutet für seine Ziele zu kämpfen
  • wie man Rückschläge wegsteckt
  • nicht zurückzuschauen, um zu Bedauern was mal war. Sondern nur, um sich selbst daran zu erinnern, wie weit man schon gekommen ist
  • Ich habe gelernt, dass aufgeben keine Option ist… niemals!

Ich konnte ihm nie wirklich sagen, wie unfassbar stolz ich in der Zeit auf ihn war. Würde ich ihm heute einen Brief schreiben – so wie die junge Dame – dann würde das auf jeden Fall darin stehen.

Es würde auch darin stehen, dass ich inzwischen verstehe, dass all seine Bemühungen mich zu lehren „wie sich eine junge Dame benehmen sollte“ und eine „gute Tochter“ zu sein, stets gut gemeint waren. Das ich vielleicht manchmal etwas mehr auf ihn hätte eingehen können.

Dinge, die ich meiner Tochter versuche zu erklären

Heute habe ich selbst eine Tochter. Und auch wir geraten aneinander. Ich versuche ihr meine Sichtweise zu erklären. Ihr begreiflich zu machen, dass ein guter Schulabschluß wichtig ist. Sie sollte lieber Sport machen, statt den ganzen Tag allein in Ihrem Zimmer zu hocken und Musik zu machen. Sie soll sich lieber mit Ihren Freundinnen persönlich treffen, statt ständig nur über das Handy zu kommunizieren. Lieber mal ein Buch in die Hand nehmen, statt die ganze Zeit online am Computer für die Schule zu lernen.

Vieles von dem, was ich versuche ihr zu erklären und für ihr Leben mit auf den Weg zu geben, stösst auf taube Ohren. Sie wird nicht akzeptieren, dass Bücher zu lesen wichtig ist (wenn man genauso gut, die Dinge online lesen kann). Sie wird nicht von mir lernen, dass Sport „besser“ für Sie ist als Musik. Ich kann ihr tausend mal erklären, dass ein guter Schulabschluß einfach so, so wichtig ist, um für sich selbst später beruflich möglichst viele Optionen zu schaffen. Sie sagt, sie braucht keine Optionen – um Musik zu machen braucht sie weder Mathe noch Chemie, Physik oder Biologie.

Die Geschichte wiederholt sich. Das was ich versuche, ihr für ihr Leben mitzugeben ist auch bei uns wahrscheinlich nicht das, was sie am Ende tatsächlich von mir für ihr Leben mitnimmt.

Was wird meine Tochter am Ende wirklich von mir lernen?

Das, was meine Tochter wirklich für den Rest Ihres Lebens an Wissen und Überzeugung mitnimmt, wird etwas sein, dass ich ihr niemals aktiv und bewusst erklären oder beibringen kann. Es ist – genau wie bei dem Vater von der jungen Dame und auch bei meinem Vater – etwas, dass ich unbewusst vermittle. Ich weiß nicht, was es sein wird!

Doch ich persönlich hoffe, dass sie von mir lernen wird

  • immer an Ihre Träume zu glauben.
  • für Ihre Ziele und Wünsche einzustehen und sich nie von irgendjemandem einreden zu lassen, sie sei zu „wenig“ oder „zu viel“ nicht gut genug, nicht wertvoll genug, nicht stark genug oder was auch immer
  • an ihre Fähigkeiten zu glauben
  • den Mut zu haben, Dinge anders zu machen als alle anderen. Ihren eigenen Weg zu gehen ohne sich beirren zu lassen

Wenn Sie irgendwann einen Brief an mich – ihre verstorbene Mutter – schreibt und sie nur halb so stolz auf mich ist, wie ich es zum Schluß auf meinen Vater war. Und wenn sie mir dankt, dass ich ihr beigebracht habe, immer an sich zu glauben und ihren eigenen Weg zu gehen, dann werde ich mich zufrieden auf meiner Wolke zurücklehnen. Beruhigt, (fast) alles richtig gemacht zu haben!

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